Die zweite Vererbung
Es ist ein Sorgerechtsverfahren, wie es schon viele gegeben hat und geben wird. Und doch könnte dieses Justizgeschichte schreiben: Die alleinerziehende Mutter des Teenagers Tom ist gestorben, das Sorgerecht soll der leibliche Vater Toni bekommen, obwohl er Tom gar nicht kennt. Bob, der sich als Lebensgefährte von Toms Mutter von Geburt an wie ein Vater um den Jungen gekümmert hat, widerspricht – und zwar mit einer ungewöhnlichen Argumentation: Er sei mindestens genauso Toms biologischer Vater wie Toms Erzeuger. Denn was er dem Jungen in all den Jahren zu essen gegeben hat, was er ihn gelehrt und mit ihm erlebt hat, habe Tom mindestens genauso geprägt wie die Gene, die ihm Erzeuger Toni bei der Befruchtung mitgegeben hat. Der Richter ist verwirrt, doch Bob hat schon begonnen zu erklären, was er meint.
Abbildung: Schwarzbäuchige Taufliege (Drosophila melanogaster)
Bildnachweis: A. Karwath/Wikimedia
Zuerst hält Bob ein Bild hoch, auf dem drei Fruchtfliegen zu sehen sind, Drosophila melanogaster, eines der klassischen Modellorganismen, mit deren Hilfe Biologen seit über hundert Jahren die Gesetze der Vererbung erforschen. Eine der drei Fliegen hat die normalen leuchtend-roten Augen. Die Komplexaugen der zweiten sind hingegen farblos weiß – Folge einer Mutation in einem Gen für die Augenfarbe. Die dritte Fliege hingegen hat rot-weiß-gescheckte Augen, manche Facetten der Komplexaugen sind weiß, andere rot. Jahrzehntelang konnten sich Forscher dieses Phänomen nicht erklären. Denn das Gen für die Augenfarbe der Fliegen mit gescheckten Augen ist so intakt wie das der rotäugigen Fliege. Der einzige Unterschied ist, dass es an einer anderen Position im Erbgut sitzt, weshalb Genforscher das Phänomen „Position-Effekt-Variegation“ (PEV) nannten. Inzwischen ist bekannt, dass das Gen in eine Region des Erbguts versetzt wurde, in der Gene „verpackt“ werden. Das heißt, der Erbgutfaden DNA wird wie in einem Wollknäuel verschnürt. Dadurch kommen die Proteine, die die Erbinformation eines Gens ablesen sollen, nicht mehr an die DNA heran – das Gen bleibt „stumm“ und infolgedessen bleibt die Facette im Komplexauge der Fliege weiß. In anderen Facettenzellen wird das Augenfarbgen – zufällig – etwas weniger fest verschnürt, so dass es doch noch abgelesen und die Facette rot wird. So kommen die rot-weiß-gescheckten Komplexaugen zustande.
Gene funktionieren nicht wie ein Computer
„Ja, aber was hat das denn nun mit unserem Fall zu tun“, wirft der Richter ein. „Je nachdem, was die Forscher den Larven der PEV-Fliegen zu fressen geben, schwankt der Anteil der roten und weißen Facetten in den Augen der geschlüpften Fliegen“, erklärt Bob. Das bedeutet, dass Geninformationen nicht einfach nur stoisch wie bei einem Computerprogramm abgelesen werden, wenn sich ein Organismus entwickelt, sondern die Zellen reagieren auf Umwelteinflüsse – zum Beispiel die Zusammensetzung des Futters. Die Gene werden mehr oder weniger verpackt und daher mehr oder weniger abgelesen. Das gilt im Grunde für alle Gene. Aber bei dem Augenfarbgen der PEV-Fliegen kann man es eben gut erkennen – an den Augen ablesen. „Für diesen Fall bedeutet es, dass es nicht allein die direkten, genetischen Vorfahren sind, die das Aussehen der Fliegen bestimmen, sondern auch Umwelteinflüsse, die Nichtverwandte, in diesem Fall die Forscher, zu verantworten haben“, sagt Bob und hält nun ein Bild von zwei Bienen hoch, einer Königin und einer Arbeiterin. „Dieses Beispiel hier beweist: Es ist nicht allein das Erbgut, was uns zu dem macht, was wir sind.“
Königin dank Enzym
Der Unterschied zwischen Bienenköniginnen, die besonders groß sind und Eier legen können, und Arbeiterinnen, die unfruchtbar sind, ist ein Paradebeispiel dafür, welch großen Einfluss die Ernährung auf die Gene nehmen kann. Denn so unterschiedlich Königin und Arbeiterinnen sind, ihr Erbgut ist identisch! Nur wenn eine Bienenlarve mit „Gelée royal“ gefüttert wird, einem Sekret aus speziellen Kopfdrüsen der Arbeiterinnen, schlüpft eine Königin. Gelée Royal enthält neben Wasser, Zucker und Aminosäuren einen Stoff, der ein bestimmtes Enzym in den Zellen der Bienenlarven hemmt. Als der Biologe Ryszard Maleszka von der Australian National University in Canberra bei Bienenlarven die Herstellung dieses Enzyms, genannt Dnmt3, blockierte, entwickelten sie sich zu Königinnen – ganz ohne Gelée Royal.
Gene im Dornröschenschlaf
„Mag ja sein, dass das bei Fliegen und Bienen so ist, aber beim Menschen?“, wirft der Richter ein. „Auch Säugetiere wie Menschen haben dieses Enzym Dnmt3“, widerspricht Bob. Es regelt das Ein- oder Ausschalten von Genen, indem es chemische Anhängsel wie Dornen an die DNA klebt, so genannte Methylgruppen. Es verteilt gewissermaßen Dornen im Erbgut, sodass Gene, die mit diesen „Methyldornen“ besetzt sind, in eine Art Dornröschenschlaf fallen und abgeschaltet werden. Die Menge und Muster dieser Methyldornen ändert sich dabei abhängig von der Lebensweise. Inzwischen sind Dutzende von Enzymen und Proteinen bekannt, die letztlich alle die Verpackung und damit den Aktivitätsgrad von Genen beeinflussen. Die Epigenetik (griechisch epi = auf, an, bei) ist der Forschungszweig der Genetik, der zu erklären versucht, was „auf“ oder mit den Genen passiert, ohne dass die DNA-Bausteine selbst verändert werden.
Ernährung und Epimutationen
Welche Auswirkungen solch epigenetische Unterschiede beim Menschen haben, ist schwer zu erforschen. In Versuchen mit Mäusen kann der Zusammenhang von Ernährung und Genmarkierung an der Fellfarbe nachgewiesen werden. Die Forscher entdeckten allerdings noch andere Folgen: Die Tiere bekamen bei veränderter Ernährung auch deutlich häufiger bestimmte Krebsarten, Diabetes und Fettsucht, als normalerweise. Denn wenn Methyldornen fälschlich auf Gene gesetzt werden, die Krebs oder Diabetes entgegenwirken, dann werden sie abgeschaltet – die Wahrscheinlichkeit für diese Krankheiten erhöht sich. Manche Forscher reden daher nicht mehr nur von Unterschieden in Methylierungsmustern, sondern sogar von „Epimutationen“.
Und die lassen sich auch bei Menschen erforschen: Simone Wahl von der Abteilung Molekulare Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München fand in den Blutproben von 10.000 untersuchten Männern und Frauen dann epigenetische Veränderungen, wenn die Testpersonen einen besonders hohen Body Mass Index (BMI) hatten, also eher fettleibig waren. Vor allem Gene, die den Fettstoffwechsel und Entzündungen regulieren, hatten durch die Fehlernährung Epimutationen davongetragen – wodurch sich die Wahrscheinlichkeit für Krankheiten wie Diabetes erhöht.
„Anders gesagt: Hätte ich Tom ständig Pommes und Currywurst essen lassen, hätte er womöglich krankmachende Epimutationen davongetragen“, sagt Bob.
Gleiches Erbgut, verschiedene epigenetische Muster
Allerdings können solche Studien nicht völlig ausschließen, dass die epigenetischen Unterschiede eine Folge der unterschiedlichen Genvarianten der nichtverwandten Probanden sind. Manel Esteller vom nationalen spanischen Krebsforschungszentrum in Madrid untersucht deshalb eineiige Zwillingspaare. Deren Erbgut ist naturgemäß praktisch identisch. Je jünger die Zwillinge sind und je länger sie gemeinsam leben, umso mehr ähnelt sich ihre Epigenetik, also die epigenetischen Markierungsmuster und damit der Aktivitätsgrad ihrer Gene. Waren sie aber früh getrennt worden oder hatten sie verschiedene Essgewohnheiten entwickelt, fand Esteller deutliche Unterschiede in den epigenetischen Mustern.
Vererbbar:
Veränderte Methylierungssignale
„Das ist ja alles schön und gut, aber deshalb wird Tom doch nicht zu Ihrem biologischen Sohn“, wirft der Richter ein, „schließlich hat er seine Gene ja von seiner Mutter und seinem leiblichen Vater bekommen und nur die wird er an seine Kinder weitergeben, nicht die von Ihrer Erziehung und Ernährung induzierten sogenannten Epimutationen“. „Nein, außer den Genen seiner leiblichen Eltern wird Tom wahrscheinlich auch Epimutationen vererben, die er im Laufe seines Lebens erwirbt“, widerspricht Bob und überreicht dem Richter die Forschungsergebnisse von Michael Skinner. Der Biologe von der Washington State University hat Ratten mit Insektiziden und Fungiziden traktiert, sodass ihre Fruchtbarkeit deutlich nachließ. Und dieser „umweltbedingte“ Schaden war vererbbar, denn auch die unbehandelten Enkel der Ratten waren weniger fruchtbar – mindestens bis in die vierte Nachkommengeneration. Als Skinner nach der Ursache suchte, fand er: veränderte Methylierungssignale in zwei fruchtbarkeitsrelevanten Genen.
Einflüsse über Generationen hinweg
Mit Menschen werden solche Experimente selbstverständlich nicht gemacht. Dennoch gibt es auch beim Menschen Hinweise auf die Vererbbarkeit von Umwelteinflüssen: Eine niederländische Studie hat schwangere Frauen und ihre Nachkommen untersucht, die im Amsterdam des Weltkriegswinters 1944 aufgrund deutscher Besatzung lange Zeit hungern mussten. Sie brachten nicht nur Kinder mit deutlich geringerem Geburtsgewicht zur Welt. Die Kinder und die Enkel erkrankten auch im späteren Leben anscheinend besonders häufig an Diabetes, Fettsucht, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Biologische und epigenetische Vaterschaft
„Lassen Sie mich zusammenfassen“, sagt Bob zum Richter. „Ich habe fünfzehn Jahre lang mit Tom gegessen, ihm das Sprechen und Laufen, Regeln, Ideen und Verhaltensweisen beigebracht, habe versucht, sein Selbstbewusstsein zu fördern und ihm seine Ängste zu nehmen. All das hat, wenn Sie so wollen, Epimutationen in seinem Erbgut hinterlassen, die ihn in seiner Persönlichkeit prägen und vielleicht sogar an seine Kinder und Enkel weitergegeben werden. Genauso wie die Gen-Varianten – die besondere Zusammensetzung der DNA-Bausteine der Gene, die Tom von seinem leiblichen Vater Toni geerbt hat – an Toms Kinder und Enkel weitergeben wird. Ich bin also ebenso Toms biologischer Vater wie Toni und möchte das auch in Zukunft bleiben.“
Schwere Entscheidung
Wie der Richter entscheiden würde, ist offen. Noch hat ein solches Sorgerechtsverfahren nicht stattgefunden und noch konnten nicht alle Experten gehört werden, weil die Epigenetik-Forschung noch am Anfang steht und viele Fragen klären muss. Zum Beispiel, wie umweltbedingte Epimutationen in Nervenzellen oder im Fettgewebe in den Samen- und Eizellen repräsentiert werden, damit die Gene in den Nerven- und Fettzellen der nächsten Generation wieder ähnlich aktiv oder inaktiv sind. Dennoch stehen die Chancen nicht schlecht, dass ein Richter bzw. die Gesellschaft künftig nicht mehr nur die Genetik sondern auch die Epigenetik berücksichtigt, wenn es um Fragen der Vererbung geht.